Ich musste gerade mal schnell einen Brief schreiben. Bitte nicht wundern, ich schreibe nicht gendersensibel in diesem Brief, da der Adressat auf der Internetpräsenz das auch nicht tut und mir jetzt wichtiger war, dass der Kern meiner Beschwerde verstanden wird.
Liebes Team bei XXXXXXXXXX.de,
eine Freundin zeigte mir kürzlich, wie man Ihre Internet-Plattform für Unterrichtsmaterial benutzt. Für mich als Sonderpädagogin ist da sicher einiges nutzbar. Ich erwäge auch, einen Zugang zu buchen.
Was mir allerdings unangenehm aufgefallen ist – und das spiegelt wohl eine gesellschaftliche Auffassung wider – ist der Begriff Inklusionsschüler bei Dateinamen oder -beschreibungen – z.B. Geometrie für Inklusionsschüler. Wenn Sie den Begriff so verwenden, wird daraus gleich ein Stigma, dann könnten sie auch behinderte Schüler schreiben oder wie vor 75 Jahren Idioten, Imbezile oder Debile.
Verstehen Sie meinen Ärger? Inklusion betrifft alle Kinder, alle Menschen einer Gesellschaft. Es gibt keine expliziten Inklusionsschüler, weil in einer inklusiven Schule alle Kinder inklusiv beschult werden. Wenn es sie gäbe, dann wären alle anderen ja “Normalschüler”. Das ist ein exklusives Verständnis und so ist das nicht gedacht. An anderer Stelle benutzen Sie doch auch schon den Begriff sonderpädagogische Förderung. Dann könnte man die Dateien ja auch Geometrie bei sonderpädogogischem Unterstützungsbedarf nennen. Oder Geometrie inklusiv (wobei dann mehrere Nivausstufen dabei sein müssten) oder Geometrie vereinfacht, Geometrie differenziert oderoderoder. Sie repräsentieren doch einige schulische Lehrmittelverlage. Ich kann mir vorstellen, dass es in deren Sinne ist, dass auch sprachlich dazu beigetragen wird, dass Kinder und Jugendliche respektvoll angesprochen oder Unterrichtsinhalte, wenn es denn sein muss, sprachlich angemessen kategorisiert werden. Am besten wären ja Materialien im Sinne des universalen Designs, das heißt, es ist ein Material, das für alle Kinder Aufgaben enthält, ohne dass bestimmte Kinder “was anderes” bekommen.
Aus dem Schuldienst an einer Gesamtschule kann ich Ihnen sagen, dass es dort für alle von außerordentlicher Relevanz ist. Das ist gerade den Kindern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarfen sehr wichtig. Sie haben Lernschwierigkeiten in Teilbereichen, aber sie sind nicht selbst ein Problemkind und daher auch keine Inklusionskinder. Das höre ich sehr auch von eben diesen Kindern. Es sind Kinder, die in einem Großteil der Fächer wie jedes andere Kind unterrichtet werden und teilweise differenziertes Material benötigen oder andere Zugänge.
Ich würde mir wünschen, dass Sie als Institution und deutschlandweit agierende Plattform meinen Denkanstoß beherzigen und gemeinsam nach einer besseren Lösung suchen. Darüber würde ich mich sehr freuen. Es gibt noch viel zu viele Stellen, die damit zu leichtfertig umgehen und damit ganz und gar nicht inklusiv arbeiten. Sprache ist ein machtvolles Instrument, mit dem auch viel Verantwortung einhergeht.
Bei Rückfragen stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Olga Natuerlich
Ich bin keine Protestbriefschreiberin oder Meckertante. Nur merke ich an dieser Sache, wie wichtig mir ist, das nicht einfach stehen zu lassen. Vielleicht lesen sie die Mail gar nicht. Vielleicht finden sie die Anfrage empörend. Oder aber sie denken wirklich darüber nach. Das liegt in ihrer alleinigen Verantwortung. Ich bin auch nicht mopsig, wenn sie nicht antworten. Aber da, wo ich etwas tun kann, tu ich gern was. Dasselbe Thema hatte ich auch schon in einem politischen Gremium. Da werden solche Begriffe in offiziellen Papieren geteilt. Auf meinen Hinweis während der Sitzung reagierten sämtliche Sprecher*innen etwas perplex. “So geben es die Schulen aber an uns weiter!”, sagt die Vorsitzende der Sitzung. Und ich erwiderte: “Aber das heißt doch nicht, dass wir das so übernehmen müssen. Wir können statt Inklusionsschüler*innen einfach Schüler*innen mit sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfen schreiben. Das ist ein Unterschied!” Und die Landrätin stimmte dann zu. Da habe ich mich gefreut, obwohl so ein AfD-Typ hinter mir meinte: “Solange Sie da nicht gendern (nicht dsch am Anfang ausgespochen, sondern g, haha) wollen, ist mir das wurscht.” Ob das Gremium das jetzt wirklich ändern wird, sehe ich in einem Jahr, aber es war ein kleiner Anstoß. Das ist mir wichtig.
Und in unserer Schule ist es wichtig, dass die Schüler*innen ernst genommen werden, wenn sie sagen: “I-Klasse oder Fördi – das geht nicht. Das fühlt sich voll scheiße an. Ich geh nicht in eine I-Klasse, die ist doch wie die anderen auch, die Klasse.” I-Klasse sagen übrigens eigentlich nur Lehrkräfte. Fördi ist auch eine schlimme Zuschreibung, ich schäme mich dafür, dass dieser Begriff immer wieder fällt.
Und auch im Bereich Medien gibt es immer wieder leidzuschreibende Berichterstattung mit Floskeln wie “an den Rollstuhl gefesselt” oder “leidet am Down-Syndrom”. Das sind schlichtweg falsche, defizitorientierte und medizinisch intendierte Zuschreibungen. Zum Glück wird auch dieses Thema schon gut befeuert und recherchiert – und eben nicht anklagend oder mahnend, sondern mit einem freundlichen Zupacken und Helfen wie z.B. auf der Seite leidmedien.de, die eine Auseinandersetzung mit der Sensibilisierung im Bereich Sprache und Bilder über Menschen mit Behinderung in vielfältiger Form anbietet. Über die neue Form der Berichterstattung über Menschen mit Behinderung hat auch die Aktion Mensch einen Artikel geschrieben, die Kurzcomics sind toll. Guckt da mal rein!
Unsere Schüler*innen sind übrigens weniger sensibel mit der Beleidigung “Bist du behindert?”, da sie das Wort behindert nicht nicht mit sich assoziieren. Ich sag zwar immer: “Ey, behindert ist keine Beleidigung.” Aber eigentlich gibt es das Wort im Schulkontext nicht so richtig, eigentlich nur, wenn es um bürokratische, amtliche Dinge geht und das geht an den Kindern oft vorbei. Ist das eigentlich richtig so?