Selbstbestimmung und Vertrauen

Wenn ich könnte, ich würde mir was zurechtzaubern, sagt mein Vater, denn das hat er immer getan bei uns auf dem Hof: Etwas gebaut, dass es ihm leichter gemacht hat. Leichter Kartoffeln trocknen und sortieren, leichteres Umschütten, leichter schwere Lasten transportieren, leichter ernten, leichter hantieren im Schankraum, leichter das Leben bewältigen mit all den Schikanen und Aufgaben.

Mein Vater ist 86 Jahre alt. Und er macht eine Erfahrung, die ihn in seinen Grundfesten erschüttert – er kann immer weniger selbstbestimmt leben. Er ist auf Hilfe angewiesen und gleichermaßen verabscheut er dieses Gefühl.

Nichts ist mehr leicht. Das fällt ihm so unendlich schwer. Nun sollen wir das lösen, wie kann er sich besser festhalten, umdrehen, nachts trinken, den Platz wechseln, aufstehen, liegen, trinken und essen. Was hilft? Was müsste man erfinden, was müsste wie gebaut werden? Er versucht uns, seine Ideen mitzuteilen, da müsste eine Stange hin, das Brett zum Umlagern müsste dreieckig sein, am Boden eine Platte mit Drehelement, er sprüht vor Ideen. Ich stelle Nachfragen, von denen ich weiß, dass sie ihm sein Herz brechen. Das erlaubt der Pflegedienst nicht, oder? Wenn kein TÜV drauf ist, darf man das so bestimmt nicht machen, oder? Aber das ist nicht rutschfest, Papa, oder?

Ich weiß nicht, ob es anders ist, wenn du mal selbstständig warst und jetzt nicht mehr. Durch meine Arbeit an der Förderschule weiß ich, dass Kinder, die auf einen Großteil ihrer Selbstbestimmung verzichten müssen, ein hohes Maß an Vertrauen und Zuwendung aufbauen, wenn ihre Bemühungen ein Echo finden. Sie stellen sich auf dich ein und du auf sie. Sie arbeiten mit dem, was jede*r mitbringt. Kommunikation ist der Schlüssel zu Selbstbestimmung, und damit meine ich auch nonverbale oder unterstützte.

Dennoch verstehe ich erst jetzt, welchen Stellenwert das alles hat im Leben. Selbst die Hinwendung zu einer Kompetenz wie Becher halten oder stehen können, Schritte machen, sich festhalten – all das bedeutet Kraftanstrengung, aber auch Kraftaufbau. Aber das geht nicht ohne Vertrauen. Denn jemand muss helfen, unterstützen oder einfach nur da sein, den Fortschritt sehen. Je mehr Selbstbestimmung man hat, desto weniger braucht man andere, je weniger selbstbestimmt man leben kann, desto mehr braucht es an Vertrauen zu anderen Leuten.

Mein Vater wollte mir gestern unbedingt zeigen, dass er wieder mit dem Rollator gehen kann. Ich hatte Sorge, er fiele hin und bräche sich die Hüfte. Er hat Angst, all das nie wieder tun zu können. Er will das Vertrauen eigentlich nicht, er will nur Selbstbestimmung. Er will etwas bauen, er fordert Bretter fürs Bett, Stangen fürs Bad, er schüttelt den Kopf, wenn man das in Frage stellt. Dann wird er ärgerlich und abwertend und gemein. Ich kann es ihm nicht verdenken.

Er ist von der Küche bis ins Schlafzimmer gelaufen.

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