Nicht verstehen wollen

Ah, angenehm, Zugfahren mit active-noise-canceling-Kopfhörern, nicht einfach Ohropax reinquetschen und bangen, dass man die Zugansagen verpasst, sondern eine Technologie, die störende Geräusche für dich ausgleicht und du hörst trotzdem noch was. Ohropax tun nämlich weh in den Ohren und das ist unangenehm. Diese Kopfhörer hingegen sind einfach wunderbar.

Oder Tagesschau in einfacher Sprache. Es ist ein Vehikel, wie die Kopfhörer, Menschen etwas bewältigbarer zu machen. Es ist keine Faulheit, Dämlichkeit oder Marotte. Und vor allem ist es keine Modeerscheinung. Es ist, wie Menschen die Welt verstehen und verarbeiten, nämlich komplett unterschiedlich. So wie Lernende in der Schule, komplett divers. Jede*r hat andere Bedürfnisse, jede*r lernt anders, jede*r versucht sich ans System anzupassen.

Ich bekomme bei zu vielen Geräuschen manchmal Stress und Ohrenstumpf. Das Ohrenschonen habe ich aber lange gar nicht als Bedürfnis angesehen, weil ich mich von Begebenheiten mit Lärm bewusst ferngehalten habe, keine Demo für mich, kein Mamafan bei Footballspielen meines Sohnes, weil mir da zu viel emotional rumgeblökt wurde. Ich hab mich schlecht gefühlt. Gewerkschafterin, aber nicht zu Kundgebungen gehen wollen? Superstolz auf das Kind, aber nicht beim Spiel zugucken? Versucht habe ich es oft, aber es hat mir nicht gutgetan. Das konsequente Vermeiden macht mir aber auch was aus, ich bin einfach nicht dabei und das ist doof.
Erst die Therapeutin stupste das Thema an. Sie dürfen sich da anders wappnen, Sie dürfen das weglassen, Sie dürfen es aber auch anders angehen, sagte sie. Ich darf die Kopfhörer tragen, ich darf bei Footballspielen abseits sitzen und bei zu viel Aufregung was malen oder schreiben. Das gilt übrigens aus meiner Sicht auch für Schüler*innen, die im Unterricht zeichnen o.ä.. Es ist nicht schrullig, dass ich immer mein Wohlfühlequipement dabei hab. Ich finde es mittlerweile normal – für mich. Ich störe damit niemanden und ich kann besser teilhaben.

Aber all das ist keine Mode, kein Gruppenzwang, kein Muss. Die meisten Leute brauchen das nicht. Sie brauchen auch die Tagesschau in einfacher Sprache nicht. Und das ist absolut okay so. Es gibt aber Menschen, für die kann es essentiell sein, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Wir sind in vielerlei Hinsicht unterschiedlich und das ist normal und gut so. Der eine braucht das, die andere braucht jenes. Erstmal zu merken, was man selbst für sich braucht, ist schon schwer genug.

Was wir nicht brauchen sind Leute, die all das abfällig kommentieren. Wenn ein Kolumnist einer fränkischen Zeitung sich äbfällig äußert, indem er behauptet, die Tagesschau in einfacher Sprache kaue Nachrichten nur vor. Wenn sich Leute darüber lustig machen, dass einfache Sprache Sprache für Blöde sei. Wenn auf Social-Media Leute mit Reichweite durch Prank-Videos, Schminktipps oder Parteizugehörigkeit darüber sinnieren, dass Autismus und ADHS Modediagnosen sind oder Zeichen der Unzulänglichkeit einer Person. Das ist allesamt abwertend und schlimm für alle Menschen, die ihren einen individuellen Weg erkunden und gehen. Warum fühlen sich Menschen besser, wenn sie andere Menschen erniedrigen und abwerten? Was ist man für ein Mensch, wenn man es absolut in Ordnung findet, anderen Menschen ihre Rechte, Bedürfnisse und ihre Selbstbestimmung abzusprechen? In was für eine Welt geht man, wenn ein Teil der Gesellschaft den anderen Teil nicht verstehen will?

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