Allzuoft gehen wir mit allem um, als gäbe es eine Lösung, immer ein Wir in den Herausforderungen, die uns begegnen, aber eigentlich dreht es sich doch um das Ich im Miteinander. Und wo es versagt. Das Ich aus seiner eigenen Perspektive entscheidet, was möglich ist und was nicht. Aber welches der vielen beteiligten Ichs gegründet die Entwicklung, welches das Versagen, wer setzt die Grenze fest?
“Kommst du zur Abschlussfeier? Bist du wieder fit?” “Nein, ich bin leider nicht fit. Ich kann am Freitag nicht kommen. Kann Lamin mein Zeugnis mitnehmen?“
Lamin ist manchmal mein Retter gewesen. Oft haben wir im Klassenraum gesessen und Nael sagte: ”Nein!”, und Lamin schüttelte den Kopf und überedete seinen Freund in knappen Sätzen, die Hilfe anzunehmen.
Angekündigt wurde er uns als junger Mensch mit aktuellem Fluchthintergrund. Er lebte bei einer deutschen Familie. Sie wollten alles möglich machen, rieben sich auf und setzten sich für Nael ein.
Nael ist krank, er braucht Unterstützung aus dem Bereich Sonderpädagogik, hieß es. Schon vor seinem ersten Tag hatten wir ein Unterstützerteam beisammen und eine To-do-Liste mit Hilfsangeboten. Es ist ja auch nicht leicht, die Schule nochmal zu wechseln, die 9. hatte er gemacht, den Hauptschulabschluss geschafft, er hat aber keine Chance bekommen, die haben ihn gar nicht gesehen, wurde gemutmaßt.
Er kommt, um bei uns den Realschulabschluss zu machen, er hat was auf dem Kasten, aber er ist krank. Er will lernen. Lamin war auch neu, beide waren fremd und brauchten Hilfe. Der Klassenlehrer meinte, ja, es geht, wenn ihr helft, geht es. Es gab Gespräche mit dem Helfer-Ehepaar, den Paten, bei denen Nael wohnte. Es kam eine Spezialistin von außerhalb, um über die Hilfsmaßnahmen zu sprechen, die bei seiner Art der Erkrankung nötig seien, ein breites Spektrum an Angeboten und Verabredungen wurde getroffen. Alle waren vorbereitet.
Und Nael nickte und verstand und machte mit und arbeitete. Wir dachten über Treppen nach, über die Schulbücher, über den Sportunterricht, Das Geodreieck geht nicht, messen geht mit Toleranz, immer, zum Glück. In Kunst brauchen wir Ersatzleistungen und Toleranz, da auch. Das kann Nael allein gar nicht tragen. Alle nickten. Der Sportlehrer verstand nicht alles, fand Entscheidungen unfair und hinterfragenswert. Wir argumentierten und hielten die Informationen über Naels Gesundheitszustand hoch. Hatten wir von den Paten.
Regelmäßig gab es Gespräche zum Lernstand und zu Fördermaßnahmen. Ich schreibe immer das Protokoll und halte alles fest, was die Beteiligten sagen.
Nael erzählt, dass seine Familie nachkommt. Wir freuen uns. Aber die Paten machten sich Sorgen. Nael hat den Eltern und Geschwistern nie erzählt, wie es ihm körperlich geht. Er wurde aus dem Kriegsgebiet geschickt, als ältester Sohn, mit 14. Da war er schon krank, aber so richtig bemerkt man das erst im Jugendalter, sagt der Arzt. In seiner Heimat wurde er wohl falsch behandelt, dann durch den Bürgerkrieg gar nicht mehr. Aber er konnte alles, als er ging, und jetzt kommen sie her und sie werden sehen, wie es ihm jetzt geht. Immer, wenn ich mein knöchernes Handgelenk sehe, denke ich an seine Oberarme.
Wir reden über eine Assistenz für den Schulalltag. Argumente, Nicken, abgemacht. Die Bücher tragen, Texte abschreiben, Tafelbilder abzeichnen, beim Geodreieck helfen. Während Sport kommt ein Lehrer, um Nael bei den Computersachen zu helfen, Bewerbung schreiben für das Praktikum. Der Sportlehrer versteht das nicht. Das Praktikum macht Nael Spaß. Jetzt wird er auch umsonst von einem Arzt versorgt, der die erste richtige Diagnose stellt und dann skizziert, wie sein Leben verlaufen wird. In aller Deutlichkeit. Aber nicht uns gegenüber.
Nael zieht mit seiner Familie in ein Haus auf dem Dorf. Ich war einmal da. Es wirkte irgendwie alles zu – nicht mal reinsehen konnte man. Ich legte die wichtigen Unterlagen unter die Fußmatte, einen Briefkasten gab es nicht. Die Assistenz wird bewilligt, aber sie weiß nicht recht, was zu tun ist. Nael ist höflich und irritiert. Er sagt zu mir: ”Sie macht zu viel, sie drängt sich auf. Ich brauche sie nicht.” Und ich erwidere: “Und wer macht die Mitschriften?” “Ich schaffe das, allein.” “Lass sie wenigstens deine Tasche tragen.” “Ich brauche das nicht.”
Beim nächsten Förderplangespräch erzählen die Paten von der körperlichen Verfassung. Nael windet sich auf seinem Stuhl, er will nicht, dass darüber geredet wird, über ihn und seinen Körper. Die Übersetzerin erklärt den Eltern den Inhalt des Arztberichtes, dass Nael hochkalorische Nahrungsergänzungsmittel zu sich nehmen muss. Wir vereinbaren, dass die Assistenz diese Trinkpäckchen verwahrt und Nael in den Pausen nicht mehr runtergehen muss. Er kann im Klassenraum bleiben und da in Ruhe essen und trinken. Im Unterricht muss er besser mitmachen, er kann das alles, aber er beteiligt sich nicht. Warum das so ist, kann Nael nicht beantworten. Die Noten rutschen ab. Und dann wird er 18. “Ich kann mich selbst vertreten, ich möchte nicht mehr, dass meine Eltern informiert werden, ich schreibe meine Entschuldigungen selbst. Ich möchte nicht mehr, dass die Paten Einblick bekommen. Auch nicht in die Arztberichte.”
Er bricht den Kontakt zu den Paten ab, er meldet sich weniger. Ich versuche mit ihm in den Pausen zu sprechen, es liegt viel an, Lamin nickt, wir müssen seinen Nachteilsausgleich beschließen, klären, wie er die Abschlussarbeiten schreiben kann und welche Hilfen er bekommt, der Berufsberater will einen Kompetenztest machen, eine Beurteilung schreiben.
“Wie geht es dir, Nael?” Lamin ist dabei in den Pausen, wenn ich die beiden überhaupt erwische, im Klassenraum sind sie nicht. “Du fehlst öfter, Nael. Du musst doch die Noten halten. Wie sollen wir dir sonst helfen?”
Die Assistenz wechselt. Sie hatte nichts zu tun, so kann man nicht arbeiten. Die Assistenzen wechseln ständig. Nael kommt zu mir und sagt: „So wird es immer schlimmer, sie hängen an mir irgendwie dran.” “Sprich mit ihnen, handele was aus. Oder soll ich das machen?” “Ich möchte gar keine Assistenz.” “Denk an die Prüfungen.” “Ich denke an andere Dinge.” “An was?” “Ich möchte mit Lamin mal Urlaub machen in Gambia, seine Herkunft finden. Ich möchte Dolmetscher werden. Ich möchte ohne Rollstuhl auf die Klassenfahrt. Und ohne Assistenz.” “Dein Klassenlehrer sagt, ohne Assistenz nimmt er dich nicht mit.”
Nael fehlt im Unterricht. Er gibt keine Hausaufgaben ab. Er ist verliebt, glauben wir. Er wendet sich von uns ab, merken wir. „Ich brauche das alles nicht mehr.“ „Aber der Abschluss…”
Und dann meldet sich der Berufsberater. Was er am Tag zu leisten vermag, wo man ihn mit dieser körperlichen Behinderung einsetzen kann, er ist außer Stande unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein, sagt der Berufsberater. Und ich höre, wie Nael sagen würde: “Ich kann doch übersetzen, ich habe doch das Praktikum im Büro gemacht, ich muss doch irgendwo arbeiten?” Aber er ist gar nicht dabei, er kommt nicht zur Schule, nicht zum Gespräch mit dem Berater. Er ist gefallen, hat sich verletzt. Und er spricht weniger. Ich beginne, ihm zu schreiben über das Handy. Oft schreibt er einfach nicht zurück. Die Spezialistin ruft mich zurück. Sie sagt: “Vielleicht hat er auch aufgegeben, bei dem Krankheitsbild, warum sollte er überhaupt arbeiten gehen?” Aber ich höre von Lamin, dass sie sich treffen, dass sie träumen.
Nael bedeutet auf arabisch “selten” aber auch “der, der seinen Weg erreicht”. Ich frage mich in seiner Abwesenheit, wie es ihm geht. Die Vorbereitungen für die Prüfungen gehen los, Nael kommt zur Schule. Wir rechnen aus, welche Noten er haben muss, damit er den Realschulabschluss schafft. Ich bespreche, welche Zusatzaufgaben er noch abgeben kann, um seine Noten zu verbessern. Die Prüfungskommission gibt grünes Licht für die Nachteilsausgleiche in der Prüfungsphase. Dann wird er wieder krank, kann die Prüfungen nicht mitschreiben, auch nicht zu den Nachschreibterminen. Auch hier kann die Schule individuell entscheiden, welche Noten auf welche Weise abschlussrelevant sind. Aber Nael meldet sich nicht. Er gibt die Ersatzleistungen nicht ab. Meldet sich nicht auf Nachfrage. Das Jahrbuch wird gestaltet, jeder schreibt einen Text über jemand anderen. “Kommt was von Nael?” frage ich Lamin. Er weiß es nicht. Im Entwurf sehe ich, dass Lamin den Text über sich einfach selbst geschrieben hat. Es gibt keine Fotos von Nael. Der Klassenlehrer meint: “Er war einfach zu stark eingeschränkt, zu krank, um das zu schaffen, was er sich vorgenommen hat.” Ich sinke in mich zusammen, weil ich weiß, dass das nicht stimmt. Und eine andere Lehrerin findet: “Er hat die Hilfe ja auch nie angenommen, man kann auch nicht immer nur fürsorglich sein.” Waren wir das? Ich frage: “Kommst du zur Abschlussfeier? Bist du wieder fit?” “Nein, ich bin leider nicht fit. Ich kann am Freitag nicht kommen. Kann Lamin mein Zeugnis mitnehmen?” Und der Freitag verstreicht ohne Nael, das Zeugnis wird verschickt. Ich schreibe ihm aufmunternde Zeilen und eine herzliche Verabschiedung. Er antwortet mit offenen netten Worten.
So ist es meistens, ich schließe an diesem Punkt die Akte, es sind Sommerferien. Aber ich kann nicht vergessen, was ich zwischendurch, vor der Abschlussfeier noch, schrieb: ”Wie geht es dir, Nael?” “Mir geht es wieder schlechter.” Und ich antwortete: ”Alles klar, gute Besserung.”