Heute war Mathearbeit. Ich sage oft: Ich hab heute Mathe geschrieben. Dabei liegt die Leistung jawohl bei den Schüler:innen. Ich muss aber vertreten, meine Kollegin aus dem anderen G-Kurs ist krank. Da ich doppelgesteckt bin und ich außerdem finde, die Kinder mit Unterstützungsbedarfen, die von mir die differenzierte Arbeit bekommen, können ruhig mal ohne meinen wachsamen Blick auskommen, melde ich mich freiwillig für die Aufsicht. Ich komme in den Klassenraum, in dem Klassenregeln, ein paar Motivationssprüche und ein schönes Bild mit der Überschrift Januar an der Wand hängen. Die Schüler:innen sitzen nicht so richtig klassenarbeitskonform weit voneinander weg. Ganz im Gegenteil, es haben sich kleine magnetische Inseln gebildet. Damit daraus keine Arbeitsgruppen werden, weise ich nochmal kurz darauf hin, wie weit auseinander sie eigentlich sitzen sollten. Es sind 15 Leute da und jeder braucht ein Geodreieck, einen Bleistift und einen dokumentenechten Stift, bloß nicht diesen wegradierbaren, und ein Blockblatt, kariert. Und natürlich ist ihr Ipad von Nöten, denn der sich darauf befindliche Grafikrechner ist Trumpf.
Eure Handys legt ihr bitte auf die Fensterbank, schön sichtbar! Das „Wenn da nicht 15 liegen, dann ist das mit dem Klogang schwierig, wisst ihr doch““ liegt mir auf der Zunge. Viel zu oft vergisst man dabei, dass es immer noch Kinder und Jugendliche gibt, die kein Handy haben oder keins mehr oder noch keins. Ich sage stattdessen: Sieben Handys, wollt ihr mich veralbern? Rückt die Dinger raus oder soll ich den Vortrag über Täuschungsversuche bei Klassenarbeiten nochmal runterleiern?“ Man trottet zum Fenster und zurück, 15 sind es trotzdem nicht. Und was mach ich, wenn einer auf Klo will? Keine Ahnung!
Ein Schüler ist neu, er kennt weder das Thema, noch hat er sein Material dabei. Er wurde aus dem E-Kurs abgestuft. Zwei Mädchen wurden letzte Woche schon bei der Deutscharbeit beim Schummeln erwischt. In einer Freistunde hat letzte Woche jemand das Siphon vom Waschbecken abgekickt, ein Schüler wurde dabei erwischt, wie er Vapes an die Kleinen verkauft, ein Mädchen ist aus der Ukraine und kann auch nach über einem Jahr in der Klasse immer noch nicht mit Lehrkräften reden oder die Klassenarbeit ansatzweise verstehen. Einer hat den anderen letztes Jahr noch befohlen, mich nicht mehr zu grüßen, weil ich angeblich ungerecht zu ihm gewesen sei. Einer hatte schon 2 Klassenkonferenzen. Einige sind darin verstrickt, jugendgefährdende Inhalte auf ihren Ipads zu haben und weiter zu verteilen. Ich nehme an, die Hälfte hier hält sich über Gebühr auf den Klos im Keller auf, um dort Dinge zu tun, die nichts mit Blasenentleerung zu tun haben.
5 Leute haben kein Geodreieck, man fasst es nicht, da die ganze Einheit über ein Geodreieck benötigt wurde. Die Hälfte leiht sich das Blockblatt von den armen Leuten, die glücklicherweise gut ausgestattet sind. Ein Mädchen, das zentral sitzt, wird sternförmig von allen Seiten gebeten, mal den Killer weiterzugeben. Einer wirkt motiviert und erfreut, der Rest lümmelt sich auf den Stühlen herum, im Laufe der Arbeit wird daraus schnell ein sich Winden. Super easy ist sie nicht, aber auch nicht nicht-machbar, finde ich. Vier Leuten fehlt übrigens das Ipad. Eine konnte sich eins leihen bei jemanden aus dem Jahrgang unter uns, einem wurde das Ipad vom Jahrgangsleiter schon weggenommen wegen des Verdachts, ziemlich mieses Videomaterial darauf zu haben. Womit soll der jetzt seine Arbeit schreiben? Mir sagt keiner was. Ich sage ihm, er soll mir sagen, wenn er während der Arbeit eins braucht, wir kriegen das schon hin. Haben wir dann auch. Und zwei haben es schlicht vergessen, die haben aus meiner Sicht einfach Pech gehabt, das Ipad ist ein Arbeitsmaterial, wer das nicht auflädt oder vergisst, der kann halt keinen Taschenrechner nutzen, die Rechnungen beim Maßstab sind aber auch nicht schwer. Gute, alte schriftliche Rechenverfahren!
Was das Geodreieck angeht und die 5 Leute ohne Fahrschein, da denke ich mir, ach komm, das macht nur Unruhe und sie können gar nicht arbeiten ohne die Dinger, denn sie müssen messen und zeichnen, ich geb ihnen meine. Also verteile ich meine Exemplare, ich habe 4 und ein Lineal. Die Jungs, es sind nur Jungs ohne Geodreieck, lächle ich an, während ich sage: Ich helfe euch kurz aus, aber das ist jawohl nur eine Notlösung, meine Herren. In meinem Kurs bin ich da strenger. Ein paar mal werden Fragen gestellt, bei denen ich denke: Häh? Schlimmer sind aber diejenigen, denen man ihre Qual äußerlich ansieht, die aber nichts sagen und auch auf Hilfsangebote nicht eingehen wollen. Ich drücke aber doch das eine oder andere Mal meine Finger auf die Seiten und sage: Hör mal, das brauchst du nur zu lesen, dann weißt du schon, was du machen sollst. Jetzt nicht aufgeben! Alle Punkte zusammenkratzen, die es zu holen gibt! Wo ist denn die Zeichnung? Na, das steht da doch! Quatsch, du gibst jetzt nicht ab, du guckst noch mal durch! Bitte bedenkt noch mal das Mathelehrkräftemotto: Mit Füller schreiben, mit Bleistift zeichnen! Wer hier mit Bleistift gerechnet hat, wird gebeten, alles am Ende nochmal nachzuziehen mit Kuli, Füller oder sowas.
Bei den Schummeldamen von letzter Woche entdecke ich extra-groß geschriebene Antworten und einen Zettel, der das Wort Vergrößerung enthält. Ich sammle es ein und kommentiere: Mädels, ihr solltet jetzt besser kein Risiko eingehen, findet ihr nicht? Ihr könnt das! Leider stimmt das nicht, weil ich am Ende beim Durchsortieren feststellen muss, dass die Hauptinformation vertauscht wurde bei den beiden. Verkleinerung, ruft es da aus mir heraus! Aber nur in Gedanken. Es gibt immer noch einige Schüler:innen, die nicht wissen, wie man am Grafikrechner den Prüfungsmodus einstellt. Wie kann das eigentlich sein? Ich helfe jedem:r einzelnen, das einzustellen, als der Hilfsmittelteil beginnt und einige bedanken sich.
Sowieso bekomme ich auch ein paar Zurück-Lächler. Keine*r streitet mit mir oder diskutiert blöd rum. Keine:r wirft theatralisch die Arme in die Luft und kann seine oder ihre Empörung kaum zurückhalten. Ich registriere kein Augenrollen und auch keine gemurmelten Verwünschungen. Das finde ich überraschend angenehm. Der Neue guckt resigniert auf die Arbeit! Ich merke am Anfang so ein Gemuffel von ihm, aber dann fragt er mich etwas und ich sage: Du darfst gern fragen, du warst ja vorher im Unterricht nicht dabei, ich erklär es dir kurz. Er ist ganz verdutzt. Und er versucht sein Bestes. Das Mädchen aus der Ukraine will auch ständig abgeben, obwohl ich ihr erlaubt habe, einen Übersetzer für die Aufgaben zu nutzen. Zeichnen! Rechenweg aufschreiben! Einheiten mitaufschreiben, Kinder. Ich bin immer so eine penible Beaufsichtigende. Ich gehe durch die Reihen. Und ich beantworte alle sinnvollen Fragen, ich gehe immer zu den Jugendlichen hin, damit sie sich auch wirklich trauen, zu fragen, was sie fragen wollen. Aber einige fragen halt gar nichts. Schreiben aber auch fast nichts. Und ich denke dann darüber nach, wie es sein kann, dass es Schüler*innen gibt, denen das mit der Schule so egal sein kann? Oder ist es ihnen nicht egal, sie haben nur schon aufgegeben? Oder bin ich da nur zu sensibel und so dramatisch ist es gar nicht?
Langsam geben alle ab, nach und nach, und die meisten gucken auch ganz zufrieden. Auf Klo musste keine:r. Ich bekomme nur zwei Arbeiten wieder, bei denen das Blockblatt am Rand noch dieses Fitzel hat. Ich knibbele es demonstrativ ab und bringe es lächelnd zurück zu den Delinquent*innen und frage, ob sie es wiederhaben wollen. Natürlich weiß ich, dass das weder als Witzchen durchgeht noch dass es irgendeinen Effekt hat. Die Kids gucken nur irritiert und ich trage die Fitzel in den Müll. Aber wir hatten Augenkontakt und der war ganz gut.
Und am Ende finde ich mich wieder, wie ich, streberhaft, umringt von 5 der Flitzpiepen die letzte Aufgabe durchgehe. Alle reden miteinander, durcheinander: „Ich hab geschrieben, es sind 115 km, wir fahren oft nach Hannover“, „Ja, aber das ist ja über die Straßen mit Navi, denk doch mal nach, hier war Luftlinie gemeint“, „Och nö, war ja aber eh geraten, hätte ich nicht rechnen können“, „Was haben Sie denn raus?“, „Rechne doch mal selbst, guck mal, hier so und mit was muss ich das dann malnehmen?“ „Ach so…“, stöhnend, „Ich hab das so“ sich freuend, „wie kommen Sie denn auf 3,8“, „Messen, steht da doch in der Aufgabe“ nochmal vorlesend: „Miss die Strecke von…“, „wie jetzt, 3,8?, ich hab 4, gilt das auch?“
So, gut gemacht, alle sind fertig geworden, wenn ihr wollt, könnt ihr jetzt noch abgammeln bis zur Pause! Äh, Frau Enn, Pause ist in 2 Minuten!
Ich sammle meine Geodreiecke wieder ein. Was ist richtig? Sie auflaufen zu lassen oder ihnen zu helfen? In so einer Zeit wie jetzt? Und damit meine ich nicht die Vorweihnachtszeit jetzt im Dezember.