Förderschwerpunkte? Trennscharf wie Nebel. Das Festellungsverfahren sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs (BasU) ist defizitorientiert, teuer, unfair – und erhält ein System, das wir längst überwinden sollten. Inklusion heißt: Barrieren abbauen, nicht Etiketten verteilen. Und ja – die Gutachten? Sind oft das Problem, und ihre sogenannte Optimierung ist nicht die Lösung.
Neulich schreibe ich eine Mail an einen Kollegen und sie enthält u.a. folgende Sätze: In den Förderschwerpunkten kann man eine:n Schüler:in nicht mit anderen vergleichen. Das suggeriert zwar z.B. die gemeinsame Kategorie Förderschwerpunkt Lernen, aber in der Praxis ist das nicht so. Diese Kinder zu benoten ist nicht leicht und erscheint auch unfair. Ich weiß, dass du die beiden mit denen aus deinem Jahrgang vergleichst, aber so easy ist die Sachlage nicht….(es folgte dann eine Abhandlung über die persönliche Ziele der betreffenden Schüler:innen, wie sie sich schon entwickelt haben und wieso das trotzdem unterschiedlich zu bewerten ist.)
Beim Abschicken seufze ich. Wie oft ich das jetzt schon erklärt habe, wie oft mich Leute irritiert angucken.
Doch das Feststellungsverfahren und mit ihm auch die Benutzung der uns bekannten Kategorien steht wissenschaftlich und auch praktisch in der Kritik. Wem nutzt sie? Wer möchte sie abschaffen mit welchem Ziel?
Die BMBF Förderlinie Förderbezogene Diagnostik in der inklusiven Bildung (eine gemeinsame Empfehlung verschiedener Forschungsgruppen (Förderbezogene Diagnostik in der inklusiven Bildung (Inklusive Bildung II) – BMBF Empirische Bildungsforschung ) kritisiert die aktuellen Verfahren und macht Vorschläge für Verbesserungen.
Die Kritik an der jetzigen Praxis kann mit den Worten „defizitorientiert, unstrukturiert, annähernd wirkungslos, uneingebunden und etikettierend“ beschrieben werden. Sie fördern eher den Erhalt und auch den Ausbau von Förderschulen und Förderschulzweigen und berufen sich auf eine treffsichere Zuweisung in die unterschiedlichen Förderschwerpunkte, die aber in der Praxis nie trennscharf sind. Das weiß jede:r in der Praxis. Denn es ist eine ganz individuelle Sache, systemisch abhängig, sozio-kulturell abhängig und in der individuellen Ausprägung höchst unterschiedlich. In Niedersachsen hat der Landesrechnungshof das ganze Verfahren 2018 aus wirtschaftlichen Aspekten beleuchtet und festgestellt, dass es „kostenintensiv und nicht mehr erforderlich“ sei (https://www.lrh.niedersachsen.de/download/131387/Jahresbericht_2018.pdf).
Eine bessere Praxis bräuchte zunächst eine rechtssichere Verankerung der Inklusion und der für ihr Gelingen notwendigen „angemessenen Vorkehrungen“ in den Schulgesetzen. Statt sich auf die Lernschwierigkeiten zu konzentrieren, wäre ein Fokus auf Barrieren und Stärken wesentlich sinnvoller. Das Feststellungsverfahren als einmalige Zuschreibung könnte ohne weiteres durch eine gute Prozessdiagnostik abgelöst werden. Davon würden auch Schüler:innen ohne festgestellte Unterstützungsbedarfe profitieren.
Beratung und Administration muss endlich getrennt werden. Es ist schwierig, wenn von der Förderschule abgeordnete Lehrkräfte die Gutachten schreiben, oft zu Gunsten der Förderschule, das heißt mit dem Hinweis auf die bessere Beschulung in den Förderschulen. Wer kann es ihnen verdenken, die Ausstattung ist an Förderschulen in der Regel besser als in den Regelschulen. Auch weil die Förderschullehrkräfte lieber an ihren Stammschulen bleiben möchten. Der Regelschule und auch Eltern wird vermittelt: den Kids geht es dort besser. Wenn die Eltern lieber die Inklusion wählen, wird der Regelschule für das Kind zumindest in Niedersachsen in der weiterführenden Schule ein gewisser Stundensatz an sonderpädagogische Förderung zugewiesen. Damit haben auch die Schulen etwas von der Erstellung jedes einzelnen Gutachtens, es gibt Lehrkräftestunden! Leider gibt es zu wenig Förderschullehrkräfte. Das sieht man im Stundentopf aber nicht, Schulen nehmen die Stunden trotzdem sehr gern. Warum auch nicht, so will es das Gesetz.
Damit erhält man das System, man ändert es nicht. Es wäre sinnvoller nach einem validen Sozialindex und auch nach Prävalenzraten Sonderpädagog:innen fest an alle Schule zu geben. Damit wäre ein Anfang geschaffen: 1. für den Beginn inklusiver Strukturen und 2. auch für das Etablieren multiprofessioneller Teams.
Und auch praktisch gesehen gibt es so viele Extras, Hürden und Ausnahmen in alle Richtungen. Beispiele gefällig? Es gibt immer mehr auch Kinder, die den klassisch vorgeschriebenen Lernbehinderungsweg gar nicht einhalten, die sind dann zu Recht im E-Kurs Englisch. Weil sie es können. Ich habe in zwei Jahrgängen so einen Fall. Was nun? Oder der ein Junge im FÖS Lernen, der in Naturwissenschaften so gut war, dass er in den E-Kurs durfte. Oder die Kinder im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in der Inklusion, die ich gerade im 6. Jahrgang habe: sie schaffen in Mathe und Deutsch teilweise die Anforderungen aus dem FöS Lernen, das heißt: nicht immer, aber dafür regelmäßig. Oder ein Junge, der schon längst entlassen ist: FöS gE und eine 1A Rechtschreibung. Er hielt sich nie an die Aufgabenstellung, aber die Texte, die er schrieb, waren so kreativ, so umfangreich und dann auch noch richtig geschrieben. Auf den Zeugnissen all dieser Kinder stand dann aber oben drauf, dass sie nach den Richtlinien des Förderschwerpunkts Lernen oder geistige Entwicklung unterrichtet wurden. Obwohl es teilweise überhaupt nicht so war.
Trennschärfe gibt es nicht, es ist eine Zuschreibung, die wahr gemacht wird, indem man die Schüler dann entsprechend „behandelt“ und wegsortiert. Und ich bin bei weitem nicht die Einzige, der das auffällt und die das stört. Oft kriege ich dann zuhören, die Zukunft, von der ich träume, gäbe es nicht oder ich läge vielleicht falsch mit meinen Gutachten.
Freunde, die Gutachten selbst sind falsch!
Warum mache ich mir immerzu Gedanken über das Thema Gutachten? Weil wir endlich anfangen müssen, mehr in die Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems hinein zu denken und zu investieren, statt die Mechanismen des alten Systems fortzuführen und damit weiterhin Segregation zu betreiben.
Anstatt Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf auszugrenzen, sollte ein inklusives Schulsystem mit flexiblen Unterstützungssystemen aufgebaut werden. Der Ausbau von Förderschulen sollte zugunsten einer inklusiven Förderung gestoppt werden. Die Empfehlungen der Forschung dazu fordern, die Vorgaben der UN-BRK konsequent umzusetzen und alle Schüler:innen bestmöglich in das allgemeine Bildungssystem zu integrieren. Dieser Prozess wird lange dauern, aber man muss damit beginnen, sonst ändert sich rein gar nichts.