Gemeinsam lernen – nicht ohne Hoffnung, Pragmatismus und die Gang

Vor ein paar Tagen war ich als Referentin auf einer Fachtagung zu Gast. Es handelte sich um eine gemeinsame Veranstaltung der GEW und des VdS, also meiner Gewerkschaft und dem Verband deutscher Sonderpädagogik, aus dem ich vor vielen Jahren ausgetreten bin.
Ich war nicht alleine dort, zwei Kolleginnen kamen mit, um zu referieren. Alleine hätte ich es nicht gemacht, dafür bin ich gerade nicht stark genug, aber meine zwei Lieblingskolleginnen bildeten das Fundament für meine wahrscheinlich etwas labberigen und, was außer Frage steht, auf den letzten Drücker vorbereiteten Passagen durch ihre eigene Erfahrung und das geteilte Wissen über gemeinsames Lernen. Aber vorerst eine grundsätzliche Fragestellung: Befreit uns die Schulleitung für den Tag von der Unterrichtsverpflichtung? Wir sind nicht ausreichend mit Lehrkräftestunden versorgt, da sind die meisten Doppelsteckungen schon aufgelöst und Zusatzbedarfe werden auch schon nicht mehr bedient. Die Schulleitung nickte aber alles ab. Daumen hoch! Das war ein gutes Gefühl. Und dann überlegten wir uns, was wir eigentlich im Kern vermitteln wollen. Also Hoffnung, Pragmatismus und die Gang.

Einmal getroffen, rumgesponnen zusammen, gelacht und Kuchen gemampft, schon hatten wir einen losen Plan. Allerdings beäugte ich den Titel etwas argwöhnisch. Förderschwerpunkt Gemeinsam Lernen. Ich kündigte also Zweifel an beim Planungsteam, auf die wiederum nicht eingegangen wurden – das ist bei mir manchmal eine gute Taktik, wenn ich vorlaut werde.

Am Fachtag selbst war ich positiv überrascht von der Menge der Teilnehmenden sowie von deren professionellen Mischung. Es war kein ausschließlicher Vortrag vor einesgleichen, Förderschullehrkräfte, die sich selbst aber auch von anderen gern als Experten für Inklusion sehen bzw. gesehen werden, sondern ein wager Start einer gemeinsamen Verantwortung durch Lehrkräfte verschiedener Schulformen.

In den Begrüßungsworten (durch die GEW) erkenne ich meinen Wahrnehmungsfehler bezüglich des Titels. Der Bezirksvorsitzende der Fachgruppe Sonderpädagogik lächelt und meint: Hier liegt der Förderschwerpunkt vor allem in den Regionalen Landesämtern für Schule und Bildung, denn Gemeinsames Lernen muss viel mehr von dort vorangetrieben werden. Ich klatsche mir innerlich gegen die Stirn. Es geht also gar nicht nur um den Förderschwerpunkt Lernen? Was für eine Wendung. Meine Kollegin raunt mir zu: Siehste, hab ich doch gesagt! Und ich grinse.

Das tue ich sowieso, seit mich mein ehemaliger Mentor aus der Anwärterinnenzeit erschreckt hat. Er ist extra zu unserem Workshop gekommen. Ich freue mich so.

Dann beginnt der Impulsvortrag (durch den VdS), ab da sehe ich erst so aus:

Und dann so:

Ich langweile mich, nach erster Orientierung, grummelig und irritiert, während über eine Stunde über den Förderschwerpunkt Lernen referiert wird. Wäh! Diplomatisch, wie sie sind, erklären mir meine lieben Freunde: Das ist vielleicht nur für uns langweilig, weil wir schon drüber wegsehen können. Wir kennen das doch schon. Und sie haben ja Recht, ich beschäftige mich schon so lange mit der Hypothese, dass gerade der Förderschwerpunkt Lernen einen Zwang realisiert, ihm Kinder zuzuordnen. Zu Lern- und Verhaltensmerkmalen, die auf wesentlich mehr Kinder und Jugendliche zutrifft und damit überhaupt nicht valide sind. Ich kann dem Planungsteam aber zugute halten, dass das Dilemma der verschiedenen Lager mit diesem Titel und der unterschiedlichen Auslegung geschickt gelöst wurde.

Schon ist aber der Vortrag vorbei und los geht es mit den Workshops. Unser ist nicht so voll, offenbar sind viele Leute hier aus dem Grundschulkontext. Ich ärgere mich mal wieder ein bisschen, als unsere Schule vorgestellt wird als “IGS, an der schon viel läuft und die Einblicke in ihre inklusive Praxis geben will”. Das klingt so etepetete. Ich hätte ja lieber, dass sie sagen: stinknormale Wald- und Wiesen-Gesamtschule ohne Schnickschnack! Ich glaube nämlich, dass die Leute es nicht mehr hören können, diese Hervorglänzer-Beispielschulen aus Großstädten mit Universitätsanbindung und massenhaft BuFDis, Praktikant*innen und Sonderfonds. Oder Schulpreis-Schulen – geh mir weg mit Modellschulen, Schulmodellen und derlei.

Als wir unseren Raum suchen für den Workshop, hören wir, wie ein Mensch in der Menge der Teilnehmenden sagt: “…nicht wieder so eine Schönfärberei…”. Vielleicht wurde damit eine Hoffnung ausgedrückt. Wir aber starten frohgemut, denn wir wissen ja, was wir vorbereitet haben und das ist gewiss keine Schönfärberei.

Unser Start: Bau dir ein*e Schüler*in. Wir haben Legosteine vorbereitet und farblich und nach Form angepasst eine Legende erstellt, mit Hilfe derer sich jede*r ein Kind oder eine*n Jugendliche*n zusammenstellen kann. Die Items in der Legende beschreiben potentielle Lebensverhältnisse, Motivation, Charakteristika im Lernen und Verhalten, Interessen, Einschränkungen und Besonderheiten. Und keine Überraschung: die Teilnehmenden bauen und erzählen von ganz individuellen Lernenden, Übereinstimmungen gibt es kaum. Und ich frage: Wie können wir da eigentlich guten Gewissens aufgrund einzelner Merkmale auf verschiedene Schulformen verteilen?

Anschließend stellen wir Referent*innen unsere Figürchen vor, denn wir haben keine Lernenden gebaut, sondern uns selbst. Nach einer kurzen Selbstbeschreibung fragen wir: Welcher Profession gehören wir wohl an? Und woran merkt man das eigentlich? Heraus kommt eine gewisse Verwirrung, weil hier nicht klar zugewiesen werden kann – mein Arbeitsbereich, dein Arbeitsbereich – meine Kinder, deine Kinder. So war das beabsichtigt. Es gibt soviel mehr, was Schüler*innen und auch Lehrkräfte gemeinsam haben als was sie unterscheidet.

Mir ist klar, dass es vielleicht als unkollegial gilt, auf Beiträge von Kolleg*innen einzugehen, aber ich zitiere Phrasen aus dem Impulsvortrag und frage: Die Merkmale des Förderschwerpunkts Lernen, die potentiellen Lernausgangslagen, die bestimmten Entwicklungs- und Förderbereiche, ist das tatsächlich so manifest und klar diagnostizierbar? Die bestimmten biographischen, sozialen und soziokulturellen Faktoren, die es im FöS Lernen gibt, gibt es die nicht darüber hinaus? Ist Beziehungsaufbau und Vertrauen nur für diese Kinder nötig? Ich sage: Das betrifft alle, immer alle. Bindung ist für jeden wichtig. Sollte Unterricht nicht für die Befähigung der Lernenden stehen, sich selbst in der Gemeinschaft wahrzunehmen und bewegen zu können? Ist das nicht der Kern unserer Arbeit als Lehrkräfte? Und in eine Gemeinschaft wachsen heißt vom Kleinen ins Große – vertrauter kleiner Kreis, Klasse, Jahrgang, Schule. All das muss gemeinsam wachsen, weil auch Lehrkräfte Faktoren haben, eine Biographie und Werte, Beziehung und Vertrauen entwickeln müssen. Und mit gemeinsam meine ich alle. Wir arbeiten an einer Gesamtschule und wir nehmen wahr: Die Merkmale der Schüler*innen verschwimmen, nichts ist manifest. Wir lösen uns davon, um selbst auch nicht in die Falle zu tappen von potentiellen Lernausgangslagen und typischen Förderbereichen auszugehen. Bei uns reden wir über Lernschwierigkeiten und versuchen einem ausgewiesenem Förderschwerpunkt nicht die Macht zu geben, ein Kind in ein fertiges Raster zu stecken. Wir schauen darüber hinaus einfach auf den individuellen Bedarf und daran misst sich die Förderung.

Daran schließt sich ein Vortrag über die Bedingungen an, die Ressourcen und Dilemma für die schulische Inklusion ausmachen können. Wir unterteilen in folgenden Ebenen: freiheitlich demokratische Grundordnung, Schulorganisation, Sachebene, Beziehungsebene und Persönlichkeitsebene. Auf all diesen Ebenen gibt es an unserer Schule Hilfreiches und Stolperfallen, die wir kurz anreißen.
Mein Kollege nutzt ein Ringe-Stapel-Spiel für Kinder, um zu verdeutlichen, dass gerade wenn es auf einer Ebene turbulent wird, sei es durch politisch rechte Erschütterungen oder bei fehlendem Support auf schulorganisatorischer Ebene, man als Person im freien Fall besonders gefährdet ist. Und er fragt: Was stabilisiert all diese Ebenen? Was passiert, wenn man nicht als Einzelner dasteht und an Strukturen zu zerbrechen droht, sondern als Gang, als Gemeinschaft? Visualisiert wird dies mit Holzstäbchen, die einzeln leicht geknickt werden können, in der Menge aber Stand halten. Das, was hilft, ist die Gang. Also steckt mein Kollege die Ringe auf die Stange. Das ist die Gang, das sind wir. Und ich sage: Und wir sind es nicht allein, wir sind eine Jahrgangsgang. Und diese ist gewachsen. Wir arbeiten seit 8 Jahren zusammen und am Anfang hab ich mich kaum in die Jahrgangsstation getraut. Ich hatte nur 5 Stunden. Aber mit der Zeit und mehr Stunden konnte ich reinwachsen und wir konnten zusammenwachsen.

Auch mit wenig Zeit, zu wenig Stunden, zeitweise zu hoher Belastung kommen wir zusammen klar und machen guten Unterricht für alle Kinder, weil wir uns ergänzen. Im optimalen Fall, der Zeit braucht. Und diese Zeit muss man sich geben. Nichts muss man alleine tun. Für nichts alleine verantwortlich sein. Dafür hat man die Gang!

Damit schließen wir unseren Workshop und es entstehen noch kleine Nebengespräche und viele Leute lächeln. Das freut uns. Weniger erfreut bin ich vom Abschlussdank der Veranstalter*innen. Die Referent*innen bekommen Blumen und ein paar nette Worte zum Dank. Bei unserer Schule kann es sich die Rednerin nicht verkneifen, noch einen schönen Downer miteinzubauen: Ja, und mit der IGS haben wir gelernt, was alles möglich ist, die Schule hat aber auch eine viel bessere Versorgung. Und das haben andere bekanntlich ja nicht. …
Ich gucke ein bisschen grimmig, weil ich am liebsten laut rufen will: Das stimmt doch gar nicht! Aber da ist die Chance schon vertan, ich klemme mir die Astern untern Arm und stapfe zurück zum Platz. Trotzdem, es war eine gute Veranstaltung. Jeder hat was mitgenommen und ich denke: Das ist der Weg! Und dann macht sich meine Gang auf den Weg zurück in unsere niedliche Kleinstadt. Wald und Wiesen halt!

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