Frau Enn ist eine Kiste

Wie wir in der Schule über Inklusion und zieldifferente Beschulung sprechen?
Mit allen natürlich. Offen und herzlich.

Im nächsten Schuljahr übernehme ich einen neuen Jahrgang, die neuen Fünfis (ich hab schon Jahrgang 9 und in Jahrgang 8 sind wir zu zweit als sonderpädagogische Unterstützung). Jahrgang 5, das bedeutet einen Haufen quirliger Großer, die erstmal lernen müssen, dass sie jetzt wieder die ganz Kleinen sind.

Dabei bleibt die Notwendigkeit nicht aus, mich vorstellen zu müssen. Mit Dienstbezeichnung und Erklärung für die Eltern und Erziehungsberechtigten beim Elternabend. Außerdem wollen die Kids irgendwann wissen, warum ich so oft in der Klasse bin und warum ich dann sehr oft mit bestimmten Kindern arbeite und mit anderen gar nicht.

Grundsätzlich bin ich für alle da. Aber manchmal braucht manch eine*r etwas mehr Unterstützung. So einfach ist das!

Warum brauchen manche Kinder mehr Unterstützung? Weil es Kinder gibt, die Lernschwierigkeiten haben oder weil sie gerade in einer besonderen Situation sind mit ihren Gefühlen oder mit anderen. Da helf ich dann oder höre zu oder bin einfach da.

Das war´s dann meistens in Klasse 5 mit den Fragen. Meiner Erfahrung nach ist es ihnen überwiegend egal, ob da mehr Erwachsene im Klassenraum sind. Fünfis sind zu allem offen und wenn was unklar ist, fragen sie einfach kurz nach. Trotzdem machen wir im ersten Halbjahr Klasse 5 einmal so einen kleinen Teaser mit einem Versuch einer Erklärung, wie wir in der IGS arbeiten. Dabei zeige ich gerne das obige Bild. Es ist gut und richtig, sich zu wünschen, dass alle Menschen gleich behandelt werden, da mit dem Wort ungleich oft auch ungerecht assoziiert wird. Gleiche Rechte, gleiche Angebote. Aber manchmal reicht das nicht, manchmal ist gleich nicht gerecht, weil manche Menschen Hilfe brauchen, um die gleichen Ziele zu erreichen. Manchmal werden sogar ganz andere Ziele gesetzt und auch das ist gerecht.

Darüber wollen die Jugendlichen in der Regel erst so ab Klasse 7/8 sprechen. Ab 8 gibt es bei uns Noten und dann beginnen die Gespräche über Gerechtigkeit von Neuem. Zu Recht, wie ich finde, denn es ist ein Thema für alle.

In einem alten 5. Jahrgang habe ich schon erlebt, wie wir bei dem Bild sagten: Die Kisten, das sind die Hilfsmittel, die wir nutzen, das können leichtere oder schwerere Arbeitsblätter sein, oder jemand bekommt weniger Aufgaben oder dass eine Schulbegleitung ein Kind unterstützt, manchmal auch, wenn eine*r extra doll gelobt wird – alles eine Kiste!

Wir sehen jeden einzelnen von euch und wir loben euch für eureZiele und Herausforderungen und jeder hat davon andere! Ihr habt auch gemeinsame Ziele, aber jeder von euch hat und braucht seine persönliche Kiste, manchmal sogar mehrere.

Du bist auch ne Kiste, Frau Enn, ne? Ja , ich bin auch ne Kiste. Und ich hab euch alle gern, auch wenn ich mit einigen Schüler*innen mehr zu tun hab.

Beim Elternabend stelle ich mich so vor: Huhu, ich bin Frau Natürlich, die Sonderpädagogin, die diesen Klasse/diesen Jahrgang begleitet. Das Sonder steht für alle Situationen, in denen besondere Aufmerksamkeit von Nöten ist. Das kann dauerhaft sein, aber auch kurz und intensiv. Ich bin grundsätzlich für alle Kinder und Eltern/Erziehungsberechtigten da, Sie können sich in jeder besonderen Situation auch bei mir melden und mit mir darüber sprechen.

Meine Dienstbezeichnung ist Förderschullehrkraft, nur eben ohne Förderschule, weil wir hier gemeinsam im Unterricht sind. Wir differenzieren gemeinsam Unterrichtsinhalte, das heißt, wir machen sie leichter oder schwerer, je nach Bedarf. Damit jedes Kind gut lernen kann.

Über Inklusion sag ich meistens nichts, weil ich ja finde, wenn man das so darstellt, dann wird daraus ein Extra. Extra beargwöhnt, extra im Fokus und mit stigmatisierenden Begriffen belegt und so soll es nicht sein. Muss ja auch nicht sein, wenn man es einfach leben kann, oder? Der Meinung sind aber nicht alle, was ich gut respektieren kann.

Inklusion in Schule macht man also, indem man eine respektvolle offenherzige Kiste ist. Und respektvoll ist man, wenn man Fragen, Zweifel und Diskussionslust gerne annimmt und offen darüber spricht.

Ich hatte schon Schüler*innen, die weinten, als ihnen bewusst wurde, was ihr Förderschwerpunkt wirklich bedeutet. Ich finde nämlich, dass auch darüber offen gesprochen werden sollte, wenn die Schüler*innen das möchten. Mit diesen Kindern und Jugendlichen habe ich dann auch auf das System geschimpft und über ihre Wut gesprochen. Zuhören und verstehen – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wollen wir nicht, dass Menschen verstehen und annehmen, dass die Gesellschaft divers ist und dass Heterogenität normal ist? Dann sollte man in der Schule damit anfangen.

Seid mehr Kisten! Alle!

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